Die im März gestartete britische Netflix-Serie Adolescence gilt bereits jetzt als eine der meistgesehenen Streaming-Serien: Der 13-jährige Jamie Miller hat spät abends eine Mitschülerin, Katie, brutal auf einem Parkplatz erstochen und wird gleich zu Beginn der Serie von der Polizei verhaftet und verhört. Die Zuschauer bekommen ebenfalls einen Eindruck von den angespannten Verhältnissen an Jamies Schule. Ein Gespräch mit der Psychologin Briony offenbart einen kleinen Einblick in Jamies Gedankenwelt. Die letzte Episode begleitet die Familie Miller durch ihren Alltag – ein Jahr nach dem Mord. Die Serie endet mit Jamies Vater im Zimmer seines Sohnes. Weinend entschuldigt er sich bei seinem Sohn: «I should’ve done better.»
Die Serie hat erneut eine grosse Debatte über die sozialen Medien entfacht – sowohl bei Briten im Privaten als auch in ihrer Politik. International diskutieren Zeitungen über Andrew Tate, ehemals ein Influencer, der gegen Frauen gehetzt hat, und «Incel» (kurz für involuntary celibate), eine frauenfeindliche Online-Männergruppe, die sich als «unfreiwillig enthaltsam» bezeichnet. Für ihre unfreiwillige Enthaltsamkeit findet die Online-Männergruppe verschiedene Erklärungen. Bei der verbreitetsten schlüpfen die «Incels» in eine Opferrolle, denn keine Frau will Sex mit ihnen haben, weil sie hässlich sind oder sonst etwas an ihnen sie als unattraktiv abstempelt. Sie geben den Frauen die Schuld für ihre Enthaltsamkeit. Jedoch existieren innerhalb der «Incel-Community» weitere Erklärungen und ganz unterschiedliche Einstellungen gegenüber Frauen.
Adolescence nimmt sich manchmal fast dokumentarisch aus. Wie in tatsächlichen Fällen von Cybermobbing werden in Adolescence vor der Tat Nacktfotos des Mordopfers Katie in der Schule verschickt. Jamie denkt, dass Katie nun ihren Tiefpunkt erreicht habe und «wertlos» geworden sei. Das sieht er als Chance, um bei ihr zu punkten. Katie weist ihn aber zurück und beleidigt ihn mithilfe von Emojis unter seinem Instagram-Post als Incel.
Unterschiedliche Perspektiven
Mir ist im Verlauf der Serie aufgefallen, dass Jamie dauernd den Satz «I haven’t done anything wrong.» wiederholt. Lange habe ich den Satz nicht verstanden, denn die Polizei hat ein Beweisvideo von der Tat. Zuerst dachte ich, dass er vielleicht trotzdem versucht, die Polizei, seine Eltern und die Psychologin davon zu überzeugen, dass er unschuldig sei. In der letzten Episode ruft er aber seinen Vater an und erklärt, er werde im Gerichtsprozess schuldig plädieren. Es geht also nicht darum, ob er es getan hat oder nicht. Es geht vielmehr um seine Moral und seine Haltung gegenüber dem Mord. Im Gespräch mit der Psychologin bezeichnet er Katie als eine wertlose «bitch» und fügt hinzu: «I could’ve touched her. But I didn’t. Most boys would’ve touched her. So, that makes me better.»
Jamies Sicht der Welt ist komplett verdreht. Er kann für sich den Mord damit verharmlosen, dass er «besser» gehandelt habe als andere Jungs und Katie in seinen Augen sowieso wertlos geworden sei, nachdem die Nacktfotos veröffentlicht wurden. Ich finde, es ist durchaus nachvollziehbar, dass die frauenverachtenden Botschaften von Andrew Tate und der «Incel-Community» als mögliche Auslöser betrachtet werden, die zum Mord geführt haben. Jedoch schauen viele Jugendliche Videos von Andrew Tate – er hat allein auf der Plattform X rund 10 Millionen Follower – und bringen keine Mitschülerinnen um.
Schwierige Familienverhältnisse
Als gewichtigeren Auslöser erachte ich die schwierigen Familienverhältnisse von Jamie. Im Verlauf der dritten Episode wird klar, dass Jamie und sein Vater Eddie eine vertrackte Beziehung haben. Jamie erzählt seiner Psychologin, dass Eddies Sanitärgeschäft besser denn je laufe und er selten zu Hause sei. Gegenüber seiner Frau gibt Eddie zu, dass er sich gewünscht habe, dass Jamie typische «Männer-Sportarten» ausüben würde. Eddie schickte Jamie zum Fussballspielen. Als Jamie vor allen versagte, drehte sich Eddie beschämt vom Spielfeld weg. Dann schickte Eddie ihn ins Boxen, auch dies lag ihm nicht. Es wirkt so, als wäre es Eddie peinlich, dass Jamie lieber zeichnen will, als einem «Männersport» nachzugehen.
Ein weiteres Thema in der Vater-Sohn-Beziehung sind ihre unausgesprochenen Gefühle. Als die Psychologin Jamie fragt, ob er seinen Vater möge, meint er, dass es «cringe» (extrem peinlich) wäre, seinen Vater zu lieben. Gefühle zuzulassen und darüber zu sprechen, erscheint wie ein Tabu-Thema für Jamie. Ein gutes Rollenbild ist sein Vater diesbezüglich nicht. In der vierten Folge hat Eddie Schwierigkeiten, Emotionen zuzulassen und mit seiner Frau offen darüber zu sprechen. Erst in der letzten Szene, als er allein im Zimmer von Jamie ist, lässt er seinen Gefühlen freien Lauf.
Verschiedene Faktoren
Im Verhalten von Jamie in der dritten Episode und von Eddie in der vierten sind mir Ähnlichkeiten aufgefallen. Jamie bekam Wutanfälle, wenn die Psychologin ihm eine Frage stellte, die ihm nicht passte, oder er eine Anweisung hätte ausführen sollen. Zudem schlüpfte er abwechslungsweise in die Rolle des «dominanten und einschüchternden Mannes» und des unschuldigen Opfers. Letzteres ist ebenfalls ein Merkmal der «Incel-Community». Ich sehe Eddie durchaus in der Rolle des «dominanten und einschüchternden Mannes». Während der letzten Folge finden mehrere Unterhaltungen statt, in denen Eddie seine Wut herauslässt. So packt er einen Jungen, den er beschuldigt, seinen Van beschädigt zu haben, am Kragen und schreit ihn an. Jamies Mutter findet auch, dass ihr Sohn das Temperament von Eddie geerbt habe.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass mehrere Faktoren wohl zum Mord geführt haben. Ich bin der Meinung, dass es am einfachsten ist, den sozialen Medien die Schuld zu geben und diese zu verteufeln. Richtig finde ich das nicht. Die «Incel-Community» hatte einen negativen Einfluss auf Jamie, seine Moral und Weltvorstellung, das ist nicht abzustreiten, aber es war nicht der einzige Auslöser.
Ich erachte es als wichtig, dass die Serie Adolescence eine Diskussion angestossen hat. Nun gilt es deren Momentum zu nutzen und das Gespräch mit Jugendlichen zu suchen, um sie über Extremistengruppen wie die «Incel-Community» und Anhänger von Andrew Tate, aber auch ihr Rollenverständnis aufzuklären.